100 Jahre Transsibirische Eisenbahn
Eine Reise von Moskau nach Peking
Von Roland Motz
Unerwartet modern wirkt am nächsten Morgen die tatarische Hauptstadt Kazan mit zahlreichen Läden, Straßencafés und Restaurants in der zur beschaulichen Fußgängerpassage verwandelten Hauptstraße Ul. Baumana. Hoch über dem Fluss Kazanka, der hier in die Wolga mündet, thront die schneeweiße Kremlanlage, die Iwan der Schreckliche nach der Eroberung Kazans zur Verteidigung ausbauen ließ. In dem Weltkulturerbe erstrahlt nicht nur die restaurierte orthodoxe Kirche mit den klassischen Zwiebeltürmen in frischem Glanz, sondern auch die von arabischen Großspendern finanzierte neue Kul Scharif Moschee aus edelstem Marmor, in die wir bei 36° Außentemperatur flüchten.
Fast tausend Kilometer weiter östlich überschreiten wir den Ural. In Jekaterinburg wurde Russlands letzte Zarenfamilie 1918 ermordet. Schräg gegenüber der „Kirche auf dem Blute“, die den Opfern am Ort ihrer Erschießung gewidmet ist, steht der „Palast der kreativen Tätigkeiten“, wie das Kulturzentrum genannt wird, daneben das ehemalige „Gebäude für Personen zur besonderen Verwendung“, dessen Zweck man besser nicht wissen möchte. Denn nicht nur die Romanows, deren sterblichen Reste nach dem Zerfall der UDSSR gefunden und die nach einigen Kontroversen von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurden, sind im Ural ums Leben gekommen, sondern auch unzählige Opfer der großen stalinistischen Säuberungen. Über 18700 Tote hat man allein in einem Massengrab im Birkenwald zwischen Pilzen und Beeren entdeckt, nur wenige Meter von den Holzkohlendörfern an der Moskauer Straße entfernt. Ihnen wird auf einfachen Messingtafeln am Waldrand gedacht. Ein paar Schritte weiter auf der früheren Straße der Verbannung, über die schon die Zaren massenweise Menschen in die Kälte schickten, stehen wir vor einer geschmacklosen Gedenksäule. Mit einem Bein noch in Europa, mit dem anderen bereits in Asien. Die Wasserscheide markiert die Grenze. Von Jekaterinburg aus begann einstmals die Erkundung Sibiriens durch Kosakentrupps, die im Auftrag des Zarengünstlings Stroganow auf der Suche nach dem „weichen Gold“, vor allem Zobelfellen, immer weiter nach Osten vordrangen und hölzerne Forts errichteten, denen später dann die transsibirische Eisenbahn folgen sollte. Sibir – schlafendes Land nannten die Jägernomaden und Pelzhändler das Land östlich des Urals, das zehn Prozent der Landmasse unseres Planeten umfasst und so dünn besiedelt ist, dass man noch immer eher auf Bären als auf Menschen trifft.
„Natürlich kennen auch wir vier Jahreszeiten“, meint Ludmila Zwerko augenzwinkernd, als wir uns schon wieder über die sibirische Hitze beschweren, „Juni, Juli, August und Winter“. Unsere Reiseleiterin kommt aus Kazan, hat ein großes Herz, einen wachen Verstand und ist wie viele Russen nach der Perestroika „ein bisschen religiös“ geworden. Vor allem dann, „wenn es im Leben knapp wird,“ wie zum Beispiel mit der Arbeit. Im heutigen Russland brauche man idealerweise 1 ½ Jobs, einer genüge nicht zum Leben, bei zwei bliebe keine Zeit dafür. Und so verdingt sich die Deutschlehrerin seit Jahren im Sommer als Reiseleiterin für den Veranstalter Lernidee. Eine bessere kann man sich nicht vorstellen. Entstanden ist der Ural, davon gibt sich Ludmila überzeugt, weil es Gott bei der Erschaffung der Welt im Osten zu kalt wurde und er die Steine einfach fallen ließ. Das muss sich im Winter zugetragen haben. Denn während der Zug das nicht besonders beeindruckende Gebirge verlässt, das sich wie ein Meridian von Nord nach Süd erstreckt, und immer tiefer in die weiten Steppen Westsibiriens am Rande der Taiga eintaucht, zeigt das Thermometer konstant über 30°.
Nowosibirsk ist die Hauptstadt Sibiriens, gut 3000 km von Moskau entfernt. „120 Jahre westsibirische Eisenbahn“ steht auf großen Plakaten vor dem Bahnhof. Die drittgrößte Stadt Russlands ist gerade einmal so alt wie die Bahn, der sie ihre Entstehung zu verdanken hat, weil man hier die günstigsten Bedingungen für die Überquerung des mächtigen Ob vorfand. Folglich gibt es keine Altstadt, folglich wurden viele Gebäude im „Stalinbarock“, die neueren als „Chruschtschowkas“ erbaut. Ganze Plattenwohnsiedlungen aus dessen Amtszeit sind mittlerweile modernisiert. Der Rest wartet darauf, abgerissen zu werden. Westliche Kaufhäuser, Supermärkte und ein hochmoderner Bahnhof empfangen die Besucher. Dennoch weht insbesondere um den zentralen Platz ein Hauch von Sowjetunion über der einstmals geschlossenen Stadt, in der es noch immer einen Zigtausende Einwohner zählenden, für Ausländer gesperrten Atombezirk gibt. Ursprünglich war das monströse Lenin Denkmal, hinter dem die eigentlich schöne Oper verschwindet, als Geschenk für Ostberlin gedacht. Doch dann kam die Wende. So muss sich Nowosibirsk sowohl mit dem furchteinflößenden Lenin, als auch mit einem martialischen, von Gazprom gesponserten Zaren Denkmal herumschlagen, das vor den Resten der alten Eisenbrücke über den Ob an den ersten Spatenstich erinnert.
Den landschaftlich schönsten Zwischenstopp verdanken wir einem unplanmäßigen Aufenthalt in Krasnojarsk. Auf einer hohen Aussichtsplattform im nahegelegenen Nationalpark Stolby kann sich niemand der Macht der Bilder entziehen. „Eto Baikal“, rufen die Russen zum Spaß, aber es ist nicht der Baikalsee, der sich schwarzblau und schier endlos unter uns ausbreitet, sondern der Jenissei, der ebenso wie der Ob noch einen weiten Weg durch dunkle Taiga und helle Tundra vor sich hat, bevor er im kurzen Sommer in der Karasee auf dreißig Kilometer Breite anschwillt. Flussaufwärts im Süden könne man das Wasser trinken, behauptet die lokale Reiseführerin. Zweitausend Kilometer nördlich schieben sich ab dem Frühsommer gewaltige Wassermassen ins Nordmeer und verursachen gigantische Überschwemmungen, weil das Eis im Mündungsgebiet den Weg versperrt und das Wasser dazu zwingt, sich neue Wege zu bahnen. Dann überziehen Lena, Ob und Jenissei die Küstengebiete mit einer dünnen Eisschicht und verwandeln weite Teile der Tundra in eine Moskito verseuchte Sumpflandschaft, bevor sie selbst wieder im langen Winter erstarren und nicht einmal mehr von den russischen Atomeisbrechern eisfrei gehalten werden können.
Irkutsk ist zweifelsohne die schönste Stadt Sibiriens. „Der einzige Ort mit menschlicher Intelligenz östlich des Ural,“ scherzt Ludmila vor dem „Zentrum für die schöpferische Entwicklung der Schüler“ neben dem Verwaltungsgebäude der ostsibirischen Eisenbahn. Von den geräumigen Zimmern des zu Sowjetzeiten den Ausländern vorbehaltenen Hotels Irkutsk haben wir einen tollen Blick über die perfekt in eine Schleife der schnell fließenden Angara gebaute Stadt. Am Fluss um den Gagarin Boulevard herrscht im kurzen Sommer ein fast südländisches Flair. Viele Studenten prägen das Stadtbild. In den Seitenstraßen stehen jedoch noch immer zweistöckige sibirische Holzhäuser, in denen die armen Bewohner darauf warten, dass ihnen mit dem Abriss eine neue Wohnung zugewiesen wird, bevor sie endgültig im Permafrostboden versinken. Da die alten Häuser mit ihren Lärchenholz Fußböden traditionell ohne Fundament gebaut wurden, ist das Erdgeschoss häufig nicht mehr bewohnbar. Deren Fenster befinden sich häufig schon unterhalb des Straßenniveaus, weil die traditionellen sibirischen Häuser nicht nur in Irkutsk jeden Sommer ein paar Zentimeter tiefer in den aufgetauten Boden einsacken.
Nur siebzig Kilometer entlang der aufgestauten Angara sind es von Irkutsk bis zum Baikalsee in der burjatischen Republik. Ca. 650 km lang, 80 km breit und vor allem bis zu 1642 m tief ist der See der Superlative, in den die gesamte Ostsee locker hineinpasst. Viele Zuflüsse hat er, aber nur einen einzigen Abfluss. Am Schamanenstein, den der alte Baikal der Legende nach seiner Lieblingstochter Angara aus Wut hinterher geworfen haben soll, weil sie eines nachts zum schönen Jenissei geflohen sei (1800 km Flucht für eine Liebe, die übrigens noch immer hält), erklärt uns Ludmila die Religion der Burjaten, während wir über offenem Holzfeuer gebratenen Omul Fisch aus dem Baikalsee essen. Die Hälfte der ursprünglich nomadischen Bevölkerung sind Buddhisten, die andere Hälfte hat naturreligiöse Vorstellungen. Weil die Priester keiner geregelten Arbeit nachgingen, wurden sie während der Sowjetzeit streng unterdrückt, doch neuerdings gibt es wieder große Schamanentreffen, vor allem auf der sonst nur von zahlreichen Süßwasserrobben bewohnten Insel Olchon inmitten des Sees. Die Burjaten kennen 99 Geister, davon sind allerdings nur 55 gute. Den 44 bösen Geistern wurde früher die hohe Kindersterblichkeit angelastet. Um die Kinder zu schützen, gaben die Eltern ihnen deshalb abschreckende Name wie Temek, was total blödes Kind bedeutet. Die Methode hat sich so gut bewährt und die bösen Geister so nachhaltig verschreckt, dass sie nicht mehr angewandt werden muss, ohne dass Kinder zu schaden gekommen wären.
Eine Straßenkarte über Sibirien zu kaufen, ist herausgeworfenes Geld. Es gibt so gut wie keine. Allen Beteuerungen russischer Reisebegleiter zum Trotz existiert noch nicht einmal eine geteerte, durchgängig befahrbare Straße bis nach Wladiwostok. Die jungen russischen Autohändler, die dort am Pazifik japanische Autos kaufen, um sie in Irkutsk mit Gewinn zu verkaufen, müssen zwischendrin eine längere Bahnfahrt mit Autoverladung auf sich nehmen. Putin persönlich hat zwar 2010 medienwirksam im knallgelben Lada den letzten fehlenden Streckenabschnitt durchfahren und eröffnet, aber an anderer Stelle hat die Materie den Kampf gegen die Natur wieder verloren. Auf dem Landweg ist die Transsib seit 100 Jahren alternativlos. Im Winter allerdings, wenn die großen Flüsse und Seen zugefroren sind, verlängert sich das russische Straßennetz ohne menschlichen Aufwand um Zigtausende von Kilometern. Man muss nur warten, bis der Verkehr freigegeben wird. In den Nachrichten werden die befahrbaren Bereiche angegeben, zunächst nur für PKWs bis zwei Tonnen, später dann für Lastwagen. Gerade die Überquerung des Baikalsees auf den mit Birkenstämmen markierten Simnikis wird häufig genutzt, bedeuten die Winterstraßen auf dem Eis doch eine enorme Zeitersparnis.
Sechs hinterhältige Winde mit jeweils eigenen Namen fegen aus den Schluchten um den Baikalsee, die mehr als dreihundert Zuflüsse in die Berghänge gerissen haben, und verursachen oft meterhohe Wellen. Aber davon ist heute auf der eigentlich stillgelegten einspurigen Trasse der alten Baikalbahn nichts zu spüren. Der Zarengold legt sogar einen mehrstündigen Badestopp ein. Maximal 12° Wassertemperatur steht im Reiseführer, direkt am Ufer sind es 17°, so dass viele Gäste dem Chefreiseleiter Dietmar Ebert aus dem Zug direkt in das kristallklare Wasser folgen, um sich anschließend mit Wodka und einer Heldenurkunde belohnen zu lassen. Auch im idyllisch direkt unterhalb eines Bahntunnels an einer Flussmündung gelegenen Weiler Polowintshatij herrscht beim abendlichen Grillpicknick ein eher mediterranes Treiben. Pfiffige Kinder bieten Beeren, ganze Blecheimer mit Steinpilzen, den beliebten Omul und natürlich auch Flaschen selbstgebrannten Wodkas an, dessen Konsum Ludmilas Ansicht nach im günstigsten Fall zum temporären Verlust der Muttersprache führen würde.
Ulan Ude ist ein seltsamer Ort, 5640 km von Moskau entfernt. Russland ist groß, der Zar weit weg, heißt es. Aber an Lenin kommt niemand vorbei in der burjatischen Hauptstadt. Die Lenin Allee führt zum Sowjetplatz, wo vor dem Parlaments- und Geheimdienstgebäude ein 43 Tonnen schwerer, aus purer Bronze bestehender bizarrer Lenin Riesenkopf sinnfrei herumsteht, den weder westrussische noch ostdeutsche Städte nach seiner Verwendung im sowjetischen Pavillon während der Weltausstellung in Kanada haben wollten. So ist auch dieses völlig schwarze, angsteinflößende Monstrum in Sibirien gelandet. Mitten auf dem zentralen Platz, der sich so wunderbar für Militärparaden eignet, können bei der Umrundung doch locker sechs Panzer nebeneinander herfahren.
Burjatien ist nur ein kleiner Punkt auf der Karte des russischen Riesenreichs und doch so groß wie Deutschland. Eine Million Menschen aus hundert verschiedenen Völkern leben hier multikulturell und friedlich zusammen. In Ulan Ude lauscht man naturgemäß weniger den Schamanen, als vielmehr dem auf- und abschwellenden Gemurmel der Mönche in tibetischer Sprache. Besonders im neuen buddhistischen Tempel auf dem „Kahlen Hügel“ über der Stadt, vor dem die Gebetsfahnen nach jahrzehntelangem Verbot wieder zu Tausenden im Wind flattern.
In Ulan-Ude verlassen wir die klassische Hauptstrecke nach Wladiwostok, die einen weiten Bogen um die chinesische Mandschurei schlägt. Mit der Fertigstellung von Russlands längster Brücke über den Amur konnte man vor 100 Jahren Russland erstmals vollständig mit dem Zug durchqueren. Wir aber folgen dem transmongolischen Trakt auf der nicht elektrifizierten Strecke in den Süden. Irgendwann im Zug verliert man das Zeitgefühl und spürt die Tyrannei der Distanz. Haben wir die Zeit zum sechsten oder siebten Mal umzustellen? Wie weit ist es noch bis Ulan Bator, wie weit bis Peking? Über Nacht hat sich die Landschaft erneut geändert. Fuhren wir bis zum Ural durch ein mehr oder weniger geschlossenes Meer aus Birken, Kiefern und Tannen, danach durch Taigawälder und endlose sibirische Steppen, dann wieder durch Wald- und Seenlandschaften am Baikalsee, so begleiten uns jetzt entlang der Selenga bis in die Vororte der mongolischen Hauptstadt hinein die spektakulären Grasebenen der Mongolei, auf denen Pferde, Kühe und Yaks weiden.
Eisenbahnenthusiasten werden nach dem letzten Grenzübertritt enttäuscht sein. Früher fuhr der chinesische Zug einige Stunden an der Großen Mauer entlang. Auf der neuen, schnelleren Strecke im stark herunter gekühlten Zug ist die letzte Teilstrecke nach Peking eher langweilig. Dafür sind berittene Raubüberfälle auf den transsibirischen Regelzug wie in den mehr oder weniger gesetzlosen Jelzin Jahren heute undenkbar. Ein moderater Hauch von Abenteuer ist auf der längsten Bahnstrecke der Welt aber schon noch geblieben, da sind sich alle Reisenden einig.